"Eine Frage der Identität" - Interview mit Dr. Michael Schied

Während in den letzten Wochen Gruppierungen wie "Pegida" gegen eine vermeintliche "Islamisierung des Abendlandes" protestieren, gibt es in Indien die gleiche Angst seit 100 Jahren. Sogenannte Überfremdung, die Frage nach Identität oder den Umgang mit Andersgläubigen, das alles beschäftigt die politische Debatte seit langem - mit drastischen Folgen für Muslime und andere Minderheiten.
Über aktuelle Entwicklungen und Gefahren sowie das Phänomen der Hindu-Nationalisten habe ich mit Herrn Dr. Michael Schied gesprochen.

Dr. Michael Schied


Dr. Michael Schied, geboren 1962, studierte Südasienwissenschaften und Ökonomie an der Humboldt-Universität Berlin. Er promovierte 1993  zum Ayodhya-Konflikt und setzt sich intensiv mit religiösem Fundamentalismus in Indien auseinander. Wiederholte längere Forschungsaufenthalte in Indien und Pakistan mit den Forschungsschwerpunkten Geschichte und Gesellschaften Südasiens im 20. und 21. Jahrhundert, Staats- und Nationenbildung sowie politische Parteien und Bewegungen, insbesondere Hindunationalismus und Entwicklungen des Nationalismus im Sindh/Pakistan.



Herr Dr. Schied, seit Mai hat Indien eine neue Regierung, geführt von der radikalen Hindu-Partei BJP, die immer wieder in antimuslimische Ausschreitungen involviert ist. Müssen wir Angst um Indien haben?
Angst? Ich weiß es nicht. Aber es ist so: Mit der BJP kann man Indien auf Dauer nicht regieren, die haben kein Konzept. Der neue Premierminister Narendra Modi hat gesagt „Achhe din aane wale“ (Die guten Tage kommen jetzt). Das ist eine Lüge, er macht etwas vor, und so einfach geht das nicht. Mit der BJP hat Indien bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Deren Vorstellungen sind keine Zukunftskonzepte. Deshalb ist auch die AAP (Aam Aadmi Party, IndischeAntikorruptionspartei) entstanden. Die Frage ist nun, was der Kongress macht. Aber der reagiert nicht, wartet darauf, dass die Schäfchen zurückkommen. Narendra Modi, der neue Premierminister, macht emotionale Kampagnen, zum Beispiel „Cleaning India“, aber das alleine wird nicht ausreichen.

Sie sprachen die Vorstellungen der BJP an. Was genau sind diese?
Die BJP hat drei zentrale Forderungen, erstens den Bau eines Ram-Tempels an die Stelle einer Moschee in Ayodhya, zweitens die Aufhebung des Paragrafen 370, der Kaschmir einen relativ autonomen Sonderstatus gewährt, und schließlich ein einheitliches Zivilgesetz für alle ethnischen und religiösen Gruppen.
Bei allem anderen hat die BJP an sich keine klare Linie, über alles andere lässt sich diskutieren, aber diese Grundsätze wollen RSS und VHP [siehe dazu unten] umsetzen. Es gibt klare Gründe, warum es §370 gibt. Die Kaschmiris haben gesagt, ohne 370 würden sie die Indische Union, verlassen und dann sind wir wieder vor 1947. Das Image von Indien ist ja friedlich, spirituell, tolerant, gewaltlos. Das Spirituelle von Indien versucht Modi auch zu verkaufen, mit Yoga, dem Yogaminister und so weiter, aber Inder können durchaus auch gewalttätig sein.

Aber Modi hat viele Auslandsbesuche gemacht, sich wirtschaftspolitisch reingehängt, wurde als der Reformer in Gujarat gefeiert, lässt sich das auf Indien anwenden? Er hat die Verwaltung effizienter gemacht, einen Strukturwandel eingeleitet…
Nun ja, das Gujarat-Modell war auch Wahlkampfthema. Das Interessante ist, dass der Human Development Index schwache Werte hat, dass Gujarat, bezogen auf Bildung, Gleichberechtigung von Mann und Frau und  vielen anderen sozialen Indikatoren sogar zurückgefallen ist. Modi hat ja im Wahlkampf vor allem soziale Themen aufgenommen, nicht religiöse – auch wenn er sich aus Kalkül religiöser Symbolik bedient hat.
Die BJP hat ja auch kein Konzept, keine eigene Wirtschaftspolitik. Sie agiert im Grunde genommen für Privatwirtschaft und recht pragmatisch, aber ohne Konzept. Die Ideologie wird langfristig nur dann etwas zurück genommen, wenn die BJP Erfolge zeigen kann. Oder anders gesagt, die BJP wird die Ideologie wieder stärker betonen, wenn sich Misserfolge einstellen.

Ist die BJP also eine fundamentalistische Partei? Gibt es religiösen Fundamentalismus in Indien?
Alle Fragen sind beeinflusst von den Vorstellungen, die wir haben, von gewissen Bildern und Vorurteilen. Es gibt Leute, die lehnen den Begriff Fundamentalismus ab andere benutzen ihn. Es ist aber wichtig, ihn klar zu definieren. Wie definiere ich Fundamentalismus? Fundamentalismus ist ein politisch-ideologisches Konzept, das die Religion uminterpretiert, auf eine bestimmte Weise, um Ideologie und Politik zu begründen. Ohne diese Interpretation auf die Politik kann Religion nicht diese zerstörerische Kraft entfalten. In Indien gibt es Fundamentalismus, auch im Hinduismus gibt es Fundamentalismus, verstärkt seit den 1980er Jahren.

Der Hinduismus gilt als tolerante Religion ohne Anspruch auf Universalität. Kann eine solche Religion überhaupt fundamentalistisch sein?
Der Begriff Hinduismus als solcher ist erst in den letzten 150 Jahren entstanden. Die Engländer hatten natürlich eine gewisse Vorstellung von Religion und haben diese nach Indien hereingetragen. Die Schuld kann man aber nicht den Kolonialherren anlasten, letztendlich wurden diese Vorstellungen in Indien dankbar angenommen und übernommen. Die Politik hat dazu sehr beigetragen, vor allem Gandhi. Auch Gerichte trugen mit ihren Entscheidungen dazu bei, den Hinduismus zu definieren.
Der Hinduismus kann fundamentalistisch sein, denn er wird politisch umgedeutet und genutzt. Das alles kommt aus der indischen Geschichte. 1919 wird die Kongresspartei zur Massenbewegung, und Indien, und das ist das Besondere, befreit sich 1947 durch eine gewaltlose politische Massenbewegung. In den 20er Jahren wurde Indern von den Kolonialherren mehr Mitbestimmung zugestanden, und Politik spielte eine größere Rolle. In diesem Kontext entstand auch der RSS in den 1920er Jahren. Hier bestand ein starker Zusammenhang zur Politik. Der RSS verstand sich von Anfang an als Gegenpol zum Kongress und zur Gewaltlosigkeit von Mahatma Gandhi. Im Gegensatz zu Gandhi und der Kongresspartei hat der RSS von Anfang an auch Gewalt befürwortet.
Der Fundamentalismus ist mit verschiedenen Organisationen verknüpft, in Indien vor allem mit der RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh, Nationaler Freiwilligenkorps) und der VHP (Vishwa Hindu Parishad, Welthindurat). Der RSS ist die Mutterorganisation, der Kern des Hindunationalismus. Interessant ist, dass der RSS in Pakistan in der (islamischen) Jamaat-e-Islami eine Entsprechung hat. RSS und Jamaat weisen gleiche Strukturen und Methoden auf und ähneln sich stark in den Grundaussagen.

Warum ist der Hindunationalismus denn gerade wieder so aktuell?
Es geht immer um die Versprechen, die gemacht wurden, als Indien unabhängig wurde. Und die große Masse der Inder hat von der Unabhängigkeit nicht oder kaum profitiert. Es gibt zwar Shopping Malls und Cineplex-Kinos, aber die Armen können sie sich nicht leisten. Früher war zum Beispiel der Film ein Integrationsfaktor, heute spielen die meisten Filme nur im urbanen Kontext, auf eine Schicht bezogen.
Schon Rajiv Gandhi, wusste um die Probleme. Er sagte schon in den 1980er Jahren, dass Fundamentalismus erstarke, weil die richtigen politischen Konzepte fehlen. Heute haben wir also die Folgen einer Entwicklung, die seit 30 Jahren anhält und mit der Nichteinhaltung der Versprechen der Unabhängigkeit zusammenhängt.
30 Jahre lang wurde um die politischen Ideen gerungen, vieles ausprobiert, und nichts hat richtig gut funktioniert. In diesem Licht kann die letzte Wahl durch Verzweiflung erklärt werden, denn alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann.

Das heißt, der Hauptgrund für Fundamentalismus ist die wirtschaftliche Lage?
Klar, Fundamentalismus ist die Antwort auf die Unfähigkeit bezüglich Korruption und Wirtschaft, aus dem gleichen Grund gehen auch junge Leute aus Europa nach Syrien, in den Irak. Ich meine, bei uns läuft ja auch viel falsch, so fern ist das Problem ja gar nicht.
Deshalb ist das so wichtig. Der Fundamentalismus wird also nicht als das Hauptproblem der Menschen jetzt empfunden, sondern die Korruption. Die Lösung dieser Frage kommt im Gewand des religiösen Nationalismus. Doch wir sollten uns daran erinnern, dass es schon einmal eine BJP-Regierung gab, und die war nicht weniger korrupt.

In der Rhetorik Modis und der BJP finden sich immer wieder antiwestliche oder globalisierungskritische Aussagen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der „Verwestlichung“ und religiösem Nationalismus?
Ist es eine Antwort auf Verwestlichung? Nun, verwestlicht ist Indien noch nicht. Das ist zwar ein klassischer Begründungszusammenhang, aber das Problem ist: Die tragenden Schichten der BJP, die Oberschicht, urbane Mittelschicht, sind auch die Träger der Verwestlichung. Die Realität ist ja anders, auf dem Land haben viele Menschen noch kein Handy gesehen, keinen Zugang zu Toiletten, da kann man eben nicht nur kurz auf Delhi und Mumbai schauen.

Wir haben jetzt also eine explizit hinduistische Partei in einem eigentlich säkularen Staat, der in seiner Verfassung Neutralität gegenüber allen Religionen verankert hat.
Indien hatte von Anfang an schon eine generelle Hindu-Ausrichtung. Gandhi hat mit religiösen Begriffen argumentiert und Konzepte aus dem Hinduismus in die Politik übertragen. Im Gegensatz dazu verstand sich Pakistan als Land der Muslime.
In dem Sinne ist Indien definitiv nicht säkular und ist es auch nie gewesen. Der große Teil Indiens hat sich immer hinduistisch definiert. In den 1920er Jahren haben sich Muslime mehr und mehr von Indien entfremdet. Eine Aversion ist entstanden und Jinnah beklagte, dass Muslime eben immer die Minderheit in Indien sein werden. Der RSS fordert seitdem vehement die Unterordnung der muslimischen Minderheit unter die Mehrheit.
Im Jahr vor der Wahl kam die Diskussion um Säkularismus nochmal auf, das hat mich doch sehr gewundert: Warum führen die Inder diese Diskussion, die sie schon seit 30 Jahren führen?

Da finden wir auch einen wesentlichen Gegensatz zwischen Kongress, der Indien als säkularen Staat will, und der BJP, die expliziert eine Hindu-Leitkultur fordert.
Genau, und diese Kontroverse gibt es seit den 1920er, 30er Jahren, die gleichen Debatten seit 80 Jahren. Der Säkularismusbegriff wurde ja erst in den 1970er-Jahren in die Verfassung durch einen Zusatz aufgenommen. Die BJP-Leute versuchen ihn auch, nicht vollständig abzulehnen. Sie meinen, dass sie, in ihrer Sprechweise, für einen „positiven Säkularismus“ stehen würden, also gegen das Appeasement von Minderheiten wie den Moslems. Es wird argumentiert, den Moslems würde immer nachgegeben, und den Hindus nicht, ein Bild, das der RSS verbreitet, das aber überhaupt keine Grundlage hat.

Für mich ist es eine ganz bedenkliche Entwicklung, dass heute viele den indischen Moslems vorwerfen, eigentlich zu Pakistan zu gehören und sich nicht zu „Bharat Mata“ zu bekennen.
Da sieht man auch den Stand der nationalen Identität, das ist ein äußerst heikles Thema, ja die eigentliche Krux. Die indische Nation ist noch im Aufbau. Wir legen jetzt bezogen auf die Nation zwar westliche Maßstäbe an, aber es ist doch ganz logisch. Die Leute streiten sich um ihre nationale Identität, warum? Weil diese noch im Aufbau ist, die Identität noch nicht geklärt.
Die Frage ist letztendlich, unter welchem Banner sich Indien vereinigen will.

Kommen wir zu einem konkreten Punkt, an dem sich schon seit langem die Gemüter entzünden – ihrem Expertenthema, der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya durch hinduistische Nationalisten. Worum geht es bei diesem Konflikt?
[Anmerkung: Nach der hinduistischen Mythologie wurde Gott Ram in Ayodhya geboren. Lange Zeit stand dort ein Tempel, 1528 wurde dieser jedoch von den Mogulherrschern abgerissen und durch eine Moschee ersetzt. Hindunationalisten erhoben die Forderung, einen Ramtempel an diese Stelle zu bauen, am 6. Dezember 1992 wurde die Moschee von ihnen zerstört.]
Die Ayodhya-Frage ist sehr komplex. Die Forderung, einen Ram-Tempel in Ayodhya zu bauen, besteht seit 1983/84. Doch dazu hätte die damalige Babri-Moschee abgerissen werden müssen. An und für sich besteht ein Rechtstreit um das Grundstück der Moschee seit 1949. Und diesen Rechtsstreit führen vier Hinduparteien und eine muslimische Partei.
1984 kam nun der VHP und forderte die Öffnung der Moschee zum Durchführen der Anbetung Ramas auf seinem angeblichen Geburtsort. Die Regierung gab nach. Die Moschee fungierte seitdem praktisch als öffentlicher Tempel. Selbst die Hindu Mahasabha, historisch mit dem RSS verbunden, sah die Moschee eigentlich als ein Tempel an.
Der VHP hat also gesagt, die Türen der Moschee sind zwar offen, aber wir brauchen ein neues Gebäude, einen Tempel. Kurz vor den Wahlen 1989 kam sie mit der Forderung, diesen zu bauen. Diese Forderung hat die BJP aufgenommen. Zu den Wahlen 1989 ging es zunächst um die Grundsteinlegung des neuen Tempels, die symbolisch vollzogen wurde. Das Oberste Gericht Indiens hat jedoch geurteilt, dass dies auf einem strittigen Grundstück, „property under dispute“, stattfindet. Der Kongress hat das durchgehen lassen, ist eingeknickt. Er hat eine symbolische Grundsteinlegung für den Ram-Tempel gestattet. Ein Jahr später, am 30. Oktober 1990, sind die Leute – trotz Straßensperren -  nach Ayodhya marschiert. Ich habe schon damals gesagt, dass es eines Tages eine BJP-Regierung geben wird. Viele haben gesagt, dass der Kongress zu dominant ist und dass die regionalen Unterschiede zu groß seien. Aber die BJP hatte ein großes Potenzial, viele Gesellschaftsschichten aufzunehmen und zu einen. Heute gibt auf nationaler Ebene letztendlich nur die Wahl zwischen BJP und Kongress.
Um damit nochmal auf die Fundamentalismusfrage zurück zu kommen – Ayodhya zeigt genau das. Dieses Thema ist für die BJP nicht diskutierbar. Warum ist das so wichtig? Warum soll das Schicksal Indiens daran hängen?

Eine weitere zentrale Forderung der BJP ist ein einheitliches Zivilgesetz, das Sie kurz vorhin erwähnten. Momentan gibt es für verschiedene Religionen noch verschiedene Gesetzgebungen, ist das langfristig tragbar?
Die Realität ist so. Generell ist es besser, ein einheitliches Zivilgesetzbuch zu haben. Eine Nation sollte ein einheitliches Recht haben. Bis hierhin decke ich mich mit der BJP. Aber diese will ihr eigenes Recht allen aufzwängen, auch den Minderheiten. Die BJP hat eine Idee, wie das auszusehen hat, und die Muslime sollen sich dem unterordnen. Indien ist noch nicht so weit für ein einheitliches Zivilgesetzbuch. Momentan brauchen die Religionen, auch die Muslime, eine eigene Gesetzgebung. Sie gibt ihnen das Gefühl, zu Indien zu gehören. Aber auf langfristige Sicht sollte das geändert werden. Die BJP und die RSS haben aber keine Idee zur langfristigen Integration.

Staatliche Organe beteiligen sich offen an religiösen Ausschreitungen, ein Großteil der Parteien schaut weg, wenn eine Moschee widergesetzlich abgerissen wird – ist Indien ein Willkürstaat?
Was ist ein Willkürstaat? Es kommt auf die Definition an, ja und nein. Die Antiterrorgesetzgebung ermöglichte zum Beispiel eine relativ willkürliche Inhaftierung und Verfolgung. Oder im Nordosten, oder in Jammu und Kaschmir. Ein Kaschmiri in Srinagar wird zustimmen, dass Indien in Willkürstaat ist. Das Streikrecht wird eingeschränkt. Es gibt ein bestimmtes Bild von Indien, der größten Demokratie der Welt, ein Rechtsstaat. Aber es ist wichtig, nachzubohren und zu fragen, wann Recht unterhöhlt oder sogar verneint wird. Ayodhya ist das beste Beispiel dafür.

Wie sieht die Zukunft aus?
Der Kongress hat nicht mehr funktioniert, und Indien hat viele schlechte Erfahrungen mit instabilen Koalitionsregierungen gemacht. Deshalb hat sich die Mehrheit für die BJP entschieden.
Früher war die Standardantwort, dass in Indien die demokratischen Prinzipien so sehr verankert sind, dass man keine Angst haben muss. RSS und VHP haben zwar der BJP-Regierung Zeit gegeben, doch in naher Zukunft wird das Thema Ayodhya wieder diskutiert werden. Und dann muss man sich mit diesem Konflikt und mit ähnlichen auseinandersetzen. Dies muss auch in unserer Politik wahrgenommen werden. Nichtsdestotrotz muss auch Angela Merkel in Kontakt mit Indien bleiben. Nur das kann die Lösung sein: Kommunikation, Kontakt und wirtschaftlicher Austausch. Doch andererseits man sollte wissen, mit wem man zu tun hat, und nicht nur auf die spirituelle Seiten schauen.

Kommen wir zu einem anderen Thema – dem Dauerbrenner des Kastensystems. Offiziell abgeschafft ist es noch immer Teil der Gesellschaft. Sehen Sie einen Wandel?
Das wird sehr von unserem Bild beeinflusst. Das Kastensystem wird zwar religiös begründet, ist aber ein soziales Thema, unter Christen zum Beispiel ist es auch verbreitet. Im Grunde genommen ist die Kaste eine soziale Heimat, und deswegen rebelliert natürlich keiner dagegen. Bei Themen wie der Gewalt an Frauen oder Witwenverbrennungen, da sieht man ja nicht, dass ganz Indien sich sozial auf dem Weg zu mehr Freiheit befindet. Die Vergewaltigungsfälle zeigen zum Beispiel, dass sich nicht die gesamte Gesellschaft modernisiert. Das Kastensystem abzuschaffen? Das werden Sie in der BJP und der RSS niemals hören.

Sie sprechen an, wie unsere Wahrnehmung von unserem Bild auf Indien beeinflusst wird.
Man versucht sehr oft, das westliche Konzept auf Indien anzuwenden, mit der westlichen Schablone auf die Dinge zu schauen, ohne die Kultur dahinter zu verstehen. Deutschland ist ziemlich arrogant in der Hinsicht, man will vieles nicht wissen oder verstehen. Viele mögen zum Beispiel Lateinamerika, weil das einen christlichen Hintergrund hat. Kuba, der Sozialismus, die Diktaturen oder die Revolutionen, also Konzepte, die passen, unter denen wir uns etwas vorstellen können. In Bezug auf Indien findet bei uns nur das Spirituelle Absatz, der Rest eher weniger.
Das werfe ich zum Beispiel auch Reiseveranstaltern vor, die dann ihre Reisenden in fünf-Sterne-Hotels unterbringen und die schönen Tempel und Moscheen zeigen. Das ist ein Betrug an der Kultur Indiens. Die soziale Realität will man ja nicht wissen. Die schauen sich schöne Bilder an oder schauen die bunten Tänze in Bollywoodfilmen.

Zum Schluss möchte ich noch auf die Außenpolitik schauen – der pakistanische Präsident Nawaz Sharif war bei der Amtseinführung Modis eingeladen, ein kleiner diplomatischer Austausch folgte, doch schnell gab es wieder Gefechte an der Grenze in Kaschmir. Wohin geht die Reise – Frieden oder weiterhin Abschreckung und Konflikt?
Dazu zuerst: Es gibt keinen unmittelbaren, direkten Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik. Momentan sieht die Lage ruhig aus, weil innenpolitisch noch sehr viele Unklarheiten herrschen, deswegen will Modi vermutlich keine zweite Baustelle in der Außenpolitik aufmachen. Natürlich wird er gewisse Grenzen auch später nicht überschreiten. Die Beziehung kann sich auch stabilisieren. Indien und Pakistan sind jedoch sehr stark aufeinander fixiert, haben die gleiche Geschichte, die Konzepte sind aufeinander bezogen. Ein normales bilaterales Verhältnis zwischen Indien und Pakistan wird es nie geben. Zuerst ist im Verhältnis mit Pakistan Ruhe angesagt, Modi konzentriert sich auf die wirtschaftliche Modernisierung.

Sind Sie optimistisch, was die Gesamtsituation angeht?
Es scheint, dass Modi wirtschaftlich gesehen auch sehr wenig in der Hand hat.
Die großen politischen Debatten werden erst noch kommen, die Frage der Identität, der Rolle der Religionen, der Muslime. Lösungen habe ich auch keine, aber Wirtschaftswachstum allein reicht nicht. Alles muss auch noch von politischen Ideen, die Zukunft haben, begleitet werden. Aber die BJP ist keine Wirtschaftspartei, deswegen bin ich auch da eher kritisch.

Herr Dr. Schied, vielen, vielen Dank für das erkenntnisreiche Gespräch!
Sehr gerne, es freut mich, dass Sie etwas erfahren haben. Liebe Grüße und auf Wiederhören!




Herr Dr. Schied hat mich auf die aktuellste Lage in Ayodhya hingewiesen. War es lange Zeit ruhig um den Tempel, so hat letzte Woche der Gouverneur des Bundesstaates Uttar Pradesh den Bau des Tempels gefordert. Eine hitzige Debatte folgte, die Führer der regierenden Partei BJP unterstützen den Vorschlag offiziell. Weiteres hier:
http://www.ndtv.com/article/india/ram-temple-the-wish-of-indians-says-uttar-pradesh-governor-ram-naik-633440
http://www.eni.network24.co/india/bjp-backs-up-governors-statement-on-ram-temple-24975_2